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Aurora Reinhard

HIGH RIDER
27. Mai bis 2. September 2018

Eröffnung: Sonntag, 27. Mai 2018, 12 Uhr

Die in Helsinki lebende Aurora Reinhard geht davon aus, dass die in unserer Gesellschaft vorhandenen Vorstellungen von Mann und Frau, von Gender und Sexualität historisch gewachsene Konstruktionen und Diskurse sind. Mit ihren beeindruckenden Bildern, Skulpturen und Videos hinterfragt sie deshalb insbesondere das Fremd- und Selbstbild von Frauen in den Medien und der Konsumwelt. Doch geht es ihr bei ihrer Arbeit auch um die Geschlechterspannung als Teil unserer Kultur- und Geistesgeschichte, die viel weiter zurückreicht, als die gerade aktuellen Debatten. Dieser zu Recht feministisch zu nennende Ansatz konkretisiert sich immer wieder in irritierend schönen, die Sinne und den Verstand der Betrachterinnen und Betrachter gleichermaßen herausfordernden Werken. Sie reichen von beeindruckenden, zum Teil verstörenden und provozierenden Fotoarbeiten über Skulpturen bis hin zu Videos, in denen die Grenzen, Spannungen, aber auch die Übergänge zwischen den Geschlechtern, differenziert, kritisch und zugleich mit großer Anteilnahme betrachtet werden.

Für ihre Essener Ausstellung hat die Künstlerin mehrere neue Arbeiten entwickelt und sich dabei von Bildern inspirieren lassen, die aus dem Fundus des abendländischen Bildgedächtnisses stammen. Einige von ihnen reichen weit in archaische Zeiten zurück wie etwa das Doppelmotiv von Mutter und Kind. Aber auch die Gestalt des mit Pfeilen durchbohrten, ein grausames Schicksal erleidenden heiligen Sebastian gehört dazu. Allerdings wechselt in diesem Falle die Figur des überlieferten christlichen Märtyrers ihr Geschlecht und wird zu einer gefesselten, mit Pfeilen gespickten Andromeda.

Das Motiv des abgetrennten Kopfes gehört ebenfalls in diesen Bilderkanon, beschreibt es doch die Vorstellung, dass ein Mensch am Ende eines tragischen Konflikts sprichwörtlich seinen Kopf verliert, ent-hauptet wird. Die uns bekannten Überlieferungen reichen von Medusa, über Goliath, Holofernes und Johannes, bis hin zu Störtebecker und den zahlreichen Enthaupteten während der Französischen Revolution. Die Trennung von Kopf und Körper existiert also als martialisches Sinnbild seit vielen tausend Jahren in unserem kulturellen Gedächtnis. Wenn Aurora Reinhard nun ihr Selbstportrait im Sinne eines abgetrennten Frauenkopfes präsentiert, könnte man gleich an den Kopf der Medusa denken. Doch erinnert diese Fotoarbeit auch an das auf einem Teller präsentierte Haupt des Johannes des Täufers, wie es vor etwa 500 Jahren eindrucksvoll von Lucas Cranach ins Bild gebracht worden ist. Hier geht es also keineswegs um die Bestätigung ewig gültiger Archai, welche sich in ihrer Gestalt und Bedeutung niemals verändern. Stattdessen macht Aurora Reinhard in allen ihren Bildadaptionen sinnfällig, dass die vermeintlichen Urbilder allesamt historisch gewachsen sind und sich letztlich als modifizierbare, uminterpretierbare und zu neuen Kontextualisierungen und Bedeutungen fähige Sinnbilder erweisen.

Die große den Raum beherrschende Fotoarbeit Madonna with Child greift in diesem Sinne nicht nur eine Bildtradition auf, die älter ist als das Christentum und das Judentum, sondern erweist sich in ihrer besonderen Adaption als höchst merkwürdige, in verstörender Weise aktualisierte und fetischisierte Gestalt. Die in eine Latexmaske mit Perücke, mit rotem Netzshirt und blauem Obergewand gekleidete Figur präsentiert sich als sexualisierte Gummigestalt mit prallen Brüsten und entsprechend künstlich wirkender Babypuppe. Die Anmutung, dass es sich hier um eine Verkörperung handeln könnte, welche in der Traditionslinie der Isis, Demeter, Kybele oder der Gottesmutter Maria steht, wird durch diese Verfremdung sowohl auf die Spitze getrieben, als auch ad absurdum geführt. Und die realen, aus den Augenlöchern des Latexgesichtes etwas verstört blickenden Pupillen machen klar, dass in dieser maskenhaften Fetisch-Hülle tatsächlich ein lebendiger Mensch steckt, - was den Widerspruch nur noch vergrößert. Aurora Reinhard konkretisiert und radikalisiert hier ein einst hieratisches über Jahrtausende überliefertes Bild mit Hilfe von befremdlichen Utensilien, die zum Teil aus dem Sexshop stammen, zu einem in erschreckenden, wie gleichermaßen faszinierenden Ersatzbild unserer Tage.

Der Wunsch ein anderer oder eine andere zu sein, in die Haut eines anderen Menschen oder gar in die Latexhülle des anderen Geschlechts zu schlüpfen, klingen in dieser Fotoarbeit ebenso an, wie die Erkenntnis der Vergeblichkeit einer solchen angemaßten Identitätsfindung im Rahmen einer fetischisierten Ersatzes. Aurora Reinhards Werke verstehen sich eben nicht als Vorschläge oder Rezepturen für reale Selbstfindungsprozesse, sondern vor allem als zutiefst irritierende, wie auch erkenntnisstiftende Sinnbilder. Es geht um das Begreifen der Geschlechterdifferenz als gesellschaftliche Konstruktion. Es geht um die Erkenntnis der kulturellen Vorprägung dessen, was wir Identität, Sex und Gender nennen und der manchmal entscheidenden Rolle, die Bilder und Medien dabei spielen. Alles dies scheint hier nicht als vorweggenommene Lösung aller Konflikte auf, sondern als deren radikalisierte bildgewordene Disposition.

Und dann ist da noch die kleine Skulptur High Rider, die dieser Ausstellung den Titel gibt. Aurora Reinhard hat eine Schere mit einem weiblichen, wie Scherenklingen gespreizten Beinpaar kombiniert. Auf diese Weise schafft sie ein intensives, vielleicht ein wenig an ein Fresko von Max Ernst erinnerndes Denk-Bild, in dem das sexuelle Begehren und die vom weiblichen Körper ausgehende Verführung zusammenkommen mit der (unterstellt männlichen) Angst, kastriert zu werden. Die Verbindung von Sigmund Freuds Entdeckung des Unbewussten, letztlich die Beeinflussung der Surrealisten durch den Traum und das Unbewusste klingen in dieser kleinen goldenen Figur noch einmal deutlich an. Nicht zuletzt haben der vom Entdecker der Psychoanalyse verfasste Aufsatz zum Medusenhaupt und seine Beschreibung der Kastrationsangst zu kontroversen Debatten beigetragen. Freud entwarf einerseits die für das männliche Begehren angsterfüllte Vorstellung einer Vagina Dentata, was sich durchaus aus der bildhaften Vorstellung der zahnbewehrten Gorgo-Medusa ableiten ließ. Anderseits beschrieb er diese archaische weibliche Figur selbst als Kastrierte, weil er (nachdem sie ihren Kopf an Perseus verlor) die klaffende Halswunde ebenso bildhaft als blutende Vagina interpretierte. Doch ging er in seiner Übertragung hierin vielleicht ein wenig zu weit: Die Medusa ist in Wahrheit keine Kastrierte (mit potentiellem Penisneid), sondern eine Kastrierende! Sie steht für die Faszination und das Zusammengehen von Eros und Thanatos, Lust und Schmerz. Und für die bildhafte Vorstellung einer machtvollen archaischen Frauengestalt, in der diese Gegensätze zusammenfinden ohne sich harmonisch aufzuheben.

Wenn Aurora Reinhard sich auf diese Weise künstlerisch mit der Repräsentation von Weiblichkeit beschäftigt, geschieht dies stets kultur-und geistesgeschichtlich fundiert, kompromisslos, aber bisweilen auch immer wieder humorvoll. Letztlich schafft sie in ihren Fotografien, Skulpturen und Videos keine Abbilder oder gar wohlfeile Illustrationen längst bekannter Zusammenhänge, sondern vielmehr beeindruckende Sinnbilder, die verwundern, bisweilen schockieren, aber in jeden Fall Querverbindungen, tiefer gehende und auch immer wieder vollkommen neue Gedanken und Erkenntnisse stimulieren.



Madonna, 2018


Selfportrait, 2018


Still Life (broken), 2018


High Rider, 2012


High Rider, 2012


Broken (female hand), 2018


Broken (female hand), 2018


The Martyr, 2018


The Martyr, 2018

Fotos: 1,2,4,8,9,10,11,12,13,15
© Lukas Vogt 2019

Fotos: 3,5,6,7,14
© Aurora Reinhard 2018

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